+
So sehr einfach

So sehr einfach

In den Flur, durch die Tür, die Treppe hinab, aus dem Haus, die Straße hinunter und über die Grünfläche, vorbei an der Bibliothek. Auf den Gleisen über ihm fährt eine U-Bahn, im Licht der Laternen kreuzt ein Fuchs seinen Weg. Unten an der Brücke überwintert ein Ausflugsschiff im Kanal, der Brunnen im Rondell steht schweigend und leer. Im Vorbeigehen riecht es nach Fleisch.

Am dunklen Ende der Straße ist die Stadt noch flach, alt und hässlich, sein Körper fällt hier nicht auf. Über den Pfad der Visionäre, vorbei an den leeren Weißräumen, die ihr Licht sinnlos verschwenden, vorbei am Grenzübergang, der schon seit Jahren nur noch touristischen Zwecken dient, vorbei am Anfang vom Ende des Kapitalismus.

Der Weg ist eine lange Gerade, eine endlose, lange Gerade und die Stadt um ihn herum wird nur langsam größer und fängt an zu glitzern. Verzerrt und unscharf fällt sein Echo von den basaltfarbenen Oberflächen der ersten Hochhausfronten zurück, der Rest der Menschheit glänzt hier durch Abwesenheit, unter seinen Füßen knirscht dröh- nend der Rollsplit. Vorbei an den teuren Geschäften, über die Kreuzungen, auf denen der Schnee dreckige Gräben bildet, voran durch die Nacht.

Auf der großen Straße stehen die Bäume schweigend Spalier, der Asphalt liegt lügend im Backofenlicht. Mehrspurig könnte man hier gehen, aber er geht allein. Vorbei an den teuren Hotels, vorbei an den golden glänzenden Eingängen, vorbei an den ehrenvollen Bauten mit ihren langen Geschichten, durch das Tor am Ende der großen Straße, hinauf auf die Freifläche, die sich hier ausbreitet und ihm plötzlich den Wind kalt ins Gesicht bläst. Über die verlassene Einöde, durch die demonstrantenbefreite Zone, vorbei an den Architekturen der Demokratie, über die Brücke, über den Fluß, hinauf zum Verkehrsknotenpunkt.

Die Rolltreppen fahren noch, oder schon wieder, vielleicht fahren die Rolltreppen hier immer, außer, wenn sie kaputt sind und kaputt sind sie oft. Auf ihren Rillen gleitet er in die Tiefe, durch die Gedärme, hinab in den Magen, findet sich auf einem Gleis wieder, in einer Bahn, die schwankend mit ihm davonfährt.

In den müden Häuserschluchten blinzelt die erwachende Stadt mit den ersten Augen, wie ein Wurm frisst sich die Schiene hier durch den Beton. Vorbei an den Türmen, vorbei an den Lichtern, die langsam davonziehen.

Am Rande der Stadt taucht sein Gesicht kurz und blass in der kalten Scheibe auf, draußen rauscht nur noch das Schwarz und an den beleuchteten Bahnübergängen wartet niemand auf ihn und den Zug, der jetzt ihm allein zu gehören scheint. Von den agrarwirtschaftlichen Nutzflächen winken ihm die Rotoren, über der weißen Ebene wird das Schwarz langsam blau. Das Land ist hier flach und unbewohnt und fängt an einem Ende an zu brennen, bis ihm vom Anblick die Augen tränen.

Irgendwann schläft er ein und der Zug trägt ihn weiter, immer noch auf der langen Geraden, der endlosen, langen Geraden, die sich zwischen den Feldern dahinzieht. Den Feldern, über die er als Kind ging, den Feldern, über die er auch jetzt wieder geht. Über die kleine Straße, auf der er die Freiheit entdeckte, die kleine Straße, die seine Welt war. Durch das weiße Tor, das man immer noch leicht anheben muss, weil es sonst über die Platten schleift, hinüber zum Haus, dem Haus mit den blauen Fenstern, von denen inzwischen die Farbe bröckelt. Lange war niemand mehr hier, die Hecken stehen hoch und unförmig im Wind. Am Haus vorbei, in den Garten, der Apfelbaum ist noch da, die Schaukel ist weg. Zum Ende des Gartens, durch ein Tor, in eine Gasse, über eine Wiese, auf eine Anhöhe und dann hinauf auf den Deich, hinunter zum Strand und da liegt das Meer.

Und schon ist er weg, so sehr einfach, irgendwohin.

Erstmals erschienen in:
Horst, Hund und Brodt — Erste und letzte Texte
Erhältlich als eBook zu »Das Grau, die Tage«